Interview mit Matthias Berlit,
Geschäftsführer bei INFORM
KI ist mehr als maschinelles Lernen!
Wollen Unternehmen ihre geschäftlichen Herausforderungen mit Künstlicher Intelligenz (KI) lösen, assoziieren sie diese oft mit Machine Learning. Damit verbessern sie zwar ihre Datenlage und erkennen Zusammenhänge oder Anomalien. Eine optimale Entscheidungsfindung ist damit jedoch nicht gewährleistet. Matthias Berlit erläutert im Gespräch, warum es hierzu eine weitere, öffentlich kaum beachtete KI-Disziplin braucht: Operations Research!
? Um das Thema Machine Learning ist in den vergangenen Jahren ein regelrechter Hype entstanden. Künstliche Intelligenz wird daher oft mit maschinellem Lernen gleichgesetzt. Doch in welchen Einsatzbereichen lohnt sich Maschine Learning wirklich und warum?
Unternehmen, die ihre Herausforderungen im Tagesgeschäft mithilfe von KI lösen wollen, konzentrieren sich häufig auf Machine Learning als Teilbereich von KI. Damit schränken sie ihr Toolset ungewollt ein, anstatt umfassend zu überprüfen, mit welchem Werkzeug sie ihre Probleme am besten angehen können. Denn Machine Learning ist vor allem gut darin, Zusammenhänge oder Anomalien in großen Datenmengen aufzuspüren, hilft jedoch nicht bei dringlichen, komplexen Planungsentscheidungen. Damit eignet sich Machine Learning nur in bestimmten Einsatzbereichen, etwa bei der Überwachung von Maschinen und Anlagen. Hier können Unternehmen mit Sensoren eine umfangreiche Datenbasis zusammentragen, die beispielsweise Temperaturen, Flüssigkeitsstände, Drehzahlen, Vibrationen und den Geräuschpegel umfasst. Aus diesen Daten erlernen die Algorithmen den Normalzustand der Maschinen und Anlagen. Anschließend sind sie in der Lage, Abweichungen wie zu hohe Temperaturen oder starke Vibrationen zu erkennen. Daraufhin können sie Mitarbeiter benachrichtigen oder die Maschine automatisch abschalten. Weitere wertschöpfende Anwendungsfälle ergeben sich bei Lieferzeitenprognosen in der Bestandsplanung oder bei der Segmentierung von Kunden im Marketing und Vertrieb.
? Wo gelangt Machine Learning dagegen an seine Grenzen?
Das geschieht überall dort, wo in einem dynamischen Geschäftsumfeld schnell gute, operative Entscheidungen zu treffen sind. Das ist beispielsweise bei der Optimierung von Logistiknetzwerken und der Produktionsplanung der Fall, die täglich komplexe Dispositionsentscheidungen erfordert. Hier fehlt Unternehmen die geeignete Datenbasis für das Training der Algorithmen. Sie könnten diese lediglich mit menschlichen Entscheidungen füttern, die jedoch nur selten optimal sind, weil das komplexe Geflecht aus verschiedenen Parametern und Abhängigkeiten für Menschen nicht zu überblicken ist. Ein Logistiknetzwerk etwa erstreckt sich häufig über tausende Routen. Da die Planer neben den Kosten, Terminen und Kapazitäten noch viele andere Faktoren wie die Tarife und Termintreue verschiedener Spediteure im Blick haben müssen, sind optimale – also situativ bestmögliche – Ergebnisse eigentlich ausgeschlossen. Ähnlich sieht es in der Produktion des Maschinen- und Anlagenbaus aus, wo eine Vielzahl von Rohstoffen und Materialien oft in mehr als zehntausend Arbeitsschritten zusammengeführt wird – bei begrenzten Produktionskapazitäten und unter Berücksichtigung von Arbeitszeiten und Auftragsprioritäten. Mit menschlichen Entscheidungen trainierte Algorithmen können in solchen Szenarien keine besseren Ergebnisse liefern als der Mensch, weil sie nur so gut sind wie ihr Trainingsmaterial.
? Womit lassen sich komplexe Planungsentscheidungen stattdessen beherrschen?
Das gelingt mit einer KI-Disziplin, die weit weniger im Rampenlicht steht als Machine Learning: Operations Research! Dahinter verbergen sich mathematische Entscheidungsmodelle und Optimierungsalgorithmen, die komplexe Sachverhalte mithilfe heuristischer und mathematischer Methoden in Sekundenschnelle in unzähligen Szenarien durchspielen und konkrete Entscheidungen berechnen können. Operations Research eignet sich für sehr individuelle Problemstellungen, die durch gut strukturierte Situationen mit linearen Zusammenhängen gekennzeichnet sind und sehr komplexe Lösungen erfordern. Die Verfahren nutzen vor allem Wissen und Annahmen über Geschäftsprozesse wie Mengen- und Zeitaufwände, Kapazitäten und Auslastungen, um ein Modell der Realität zu erstellen und die Auswirkungen von veränderten Parametern zu überprüfen. Das hilft bei komplexen Planungsaufgaben und der agilen Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse, während Machine Learning eher dazu dient, versteckte Muster mit der Zeit immer besser zu erkennen.
"Operations Research hilft bei komplexen Planungsaufgaben und der agilen Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse."
? Welche Vorteile bieten die OR-Methoden für Unternehmen?
Operations Research erlaubt Unternehmen auch ein Feintuning auf mehrere Ziele hin – in der Logistik beispielsweise dahingehend, dass neben pünktlichen Lieferungen eine gute Balance aus Kosten und Umweltfreundlichkeit erreicht wird. Zudem sind sie in der Lage, ihre Prozesse robuster gegenüber Störungen zu machen, weil die Modelle binnen Sekunden mögliche Handlungsalternativen simulieren und die bestmöglichen aufzeigen können. Verspätet sich eine Rohstofflieferung oder muss ein wichtiger Auftrag kurzfristig eingeschoben werden, planen sie die vorhandenen Rohstoffe und die verfügbaren personellen und maschinellen Produktionskapazitäten um.
"Unternehmen sollten Operations Research und Machine Learning im Repertoire haben."
? Gibt es auch Anwendungsfälle für einen hybriden KI-Ansatz, der die Stärken beider Technologien vereint?
Eine Kombination aus daten- und wissensgetriebener KI-Verfahren kann in bestimmten Fällen die besten Ergebnisse liefern. Machine Learning zählt zu ersteren, während letztere neben Operations Research zum Beispiel auch Fuzzy Logic meint. Ein typischer Einsatzbereich ist die Betrugserkennung und -prävention in der Finanzbranche. Auf der einen Seite spielt Machine Learning eine wichtige Rolle, um aus Transaktionsdaten Betrugsmuster zu filtern und zu erlernen. Wären Banken und andere Finanzinstitute aber darauf angewiesen, auf dieses Lernergebnis zu warten, würden mitunter Wochen ins Land ziehen und der Schaden wäre unermesslich. Stattdessen bewerten die wissensgetriebenen Verfahren in Echtzeit Daten aus unterschiedlichen Quellen hinsichtlich ihres Betrugsrisikos. Dazu können neu entdeckte Betrugsmuster schnell in anwendbare Regeln übersetzt werden, um so eine verdächtige Transaktion zu sperren. Ebenso vermag Machine Learning die Datenbasis für Optimierungsalgorithmen zu verbessern. Beispielsweise profitieren Algorithmen für die Bestandsoptimierung oder zur Optimierung von Produktionsplänen von maschinell erlernten Lieferzeitenprognosen, die genauer sind als die Daten, welche mit den in den Stammdaten hinterlegten Lieferzeiten ermittelt wurden.
? Welche Strategie ist hinsichtlich des Einsatzes von KI und Operations Research für Unternehmen sinnvoll?
Für Unternehmen ist es deshalb wichtig, sich bei der Lösung ihrer komplexen Herausforderungen nicht von vornherein auf Machine Learning oder Operations Research festzulegen oder gar wegen eines Hypes auf eine festgelegte Lösung zu setzen. Stattdessen sollten sie beide Werkzeuge im Repertoire haben und gezielt in den passenden Anwendungsfällen einsetzen, bei Bedarf auch im Zusammenspiel.
Künstliche Intelligenz
Ein Kommentar von Dr. Eva Savelsberg, Mitglied der INFORM-Geschäftsleitung
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